Rea Gorgon

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Die Mutter stirbt. Auf ihrer Beerdigung trifft Paula noch einmal den Vergewaltiger aus ihrer Kindheit.

Erneut ist sie mit den Langzeitfolgen seiner Taten und auch deren Auswirkungen auf die Herkunftsfamilie konfrontiert. – Paula, die ihren Namen geändert hat und sich nun Ana nennt, fährt nach Berlin zurück, sammelt all ihre Erinnerungen an das Verbrechen und schreibt diese nieder. − 

Gleichzeitig forscht sie im Stadtarchiv des Tatorts nach den Verstrickungen ihrer Heimatstadt in den Nationalsozialismus. Auch hierüber wird nicht geredet. Dennoch findet sie Namen von Verbrechen, von Geschädigten, von Widerständigen und auch von Mittuenden. Sie alle sind in einem lähmenden Schweigen miteinander verbunden. 

Diese Großerzählung mit realem Hintergrund handelt von Opfern, von Tätern, von Sprechen und Schweigen, von Verdrängen und Erinnern, von Lügen und Wahrheit, von Anklagen und den Bedingungen möglicher Vergebung.

Man merkt ihr die Historikerin an: Wie sie Weltgeschichte (Judenverfolgung, Nationalsozialismus), ein Stück Kirchengeschichte (Zeit des 30jährigen Krieges) wie auch Stadtgeschichte (Mengen) geschickt verbindet mit ihren eigenen schmerzlichen Erfahrungen, hoffend, „die Hilfe einer Nebelwolke, die das den Schweden beinahe anheimfallende Dorf schützte, dass das schwedische Heer es nicht mehr fand und erfolglos abzog“, würde auch sie schützen und dem Täter jeglichen Zugriff auf sie und ihren Körper vereiteln.

Rea Gorgon erzählt eine themenzentrierte Familienchronik, eingebettet in die Geschichte der Kriegs- und Nachkriegszeit auf einer Makroebene, die dann in die Mikroebene innerpsychischer Strukturen einmündet. Und plötzlich trifft mit ungeheurer Wucht auch die Leser*innen eine Schuldübernahme seitens des Kindes im Beichtstuhl: „Ich war unkeusch im Reden, Denken und Tun.“

Immer wieder ringt die Ich-Erzählerin um familiäre Nähe und deren Schutz, was ihr auch im späteren Erwachsensein durch üble Nachreden in Bezug auf sie selbst verwehrt wird und seinen Lügen gegen ihre Wahrheit mehr geglaubt wird, weil keiner wegen möglicher Konsequenzen wissen will, was damals geschehen ist.

Sie webt in ihre Erzählung geografische Beschreibungen bildhaft und poetisch mit ein, gibt Einblick in eine Gesamtheit menschlichen Seins und in eine komplexe (Welt)Geschichte: „Übelkeiten aus Menschenhänden, die zu dieser Welt gehören – gleich allen Kains und Abels zwischen Leben und Toden, die sie verbreiten.“

Durch ihre poetische Sprache erhält das Beschriebene dezente Farben und hinterlässt dadurch eine Anschaulichkeit, die keine kalte Nüchternheit und auch keinen Voyeurismus zulässt. Sie beweist in all dem psychologische und philosophische Kenntnisse, die sie gleichzeitig zur Expertin als Beraterin machen. Ihre Erfahrungen des sexuellen Missbrauchs, ihr Kampf mit Schmerz, Gewalt, Verrat und Schweigen, wird in der Begegnung mit dem Täter als Erwachsene während der Trauerfeier für den verstorbenen Vater wieder neu aktualisiert. 

Sie entschließt sich, endlich zu reden. „Endlich ist mir die Trennung zwischen dem einstigen Opfer und dem einstigen Täter gelungen.“ (…) „Und es ist für mich unwichtig geworden, ob der einstige Täter weiter lügt oder nicht.“ Es sind Schlüsselsätze, die Mut machen, Lügen und Schweigen aufzudecken und als das zu benennen, was es ist: Gewaltverbrechen an Wehrlosen, die nicht ungestraft bleiben dürfen. Denn „Schweigen selbst ist Gewalt, die Täter produzieren“.

Wäre ihre Erzählung ein Bühnenstück, wäre sie die ideale Besetzung einer Doppelrolle (das Opfer und die psychologische Beraterin), die sie eindrucksvoll ausfüllen würde.

In einer weiteren Auseinandersetzung – sowohl innerpsychisch wie öffentlich gesellschaftlich – spricht sie ein wichtiges Thema sowie dessen Bedeutung für Bewältigungschancen an: die Möglichkeit, dem Täter zu vergeben. Doch das kann sie nicht und will es auch nicht bedingungslos. Hierbei nimmt sie Bezug auf den uralten Mythos von Kain und Abel, in dem der Mörder Kain zwar seine zweite Lebenschance erhält, jedoch an Konditionen geknüpft.

Auf den nächsten Seiten dokumentiert die Ich-Erzählerin in einem älteren Textsegment Folgeschäden und ihre weiteren Bemühungen, den einstigen Täter mit seinen Taten Jahre später zu konfrontieren, „dem Täter die Tat vor die Füße werfen.“

Und auch darin zeigt sie ihre intellektuellen Fähigkeiten, sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung als von einer patriarchalen Gerichtsbarkeit juristisch definiert aufzuzeigen.  Die Autorin analysiert die derzeitige bundesdeutsche Gesetzgebung und entlarvt sie als ad absurdum und unzulänglich gegenüber den eigentlichen Verbrechen an den Opfern.

Es folgt ein Kapitel über den gelungenen Versuch, das Gewaltgeheimnis ohne Wenn und Aber zu lüften, „denn noch war das Verbrechen nicht am Licht, wo es hingehörte.“ Sie tat es als „eine Handlungsreisende in Sachen Wahrheit“ und nennt dieses Kapitel „Chronologie einer Offenbarung.“

Weiter folgen Gespräche mit der Mutter und der Schwester, die mit dem einstigen Täter verheiratet ist und das einstige Opfer als Lügnerin bezichtigt. Die Mutter glaubt ihr und zweifelt doch an ihren Worten. Es kommt zu einem längeren Briefwechsel zwischen Mutter und Tochter, der mit gegenseitigen Vorwürfen abrupt endet, später jedoch wieder neu aufgenommen wird. Als die Mutter stirbt, ist die Tochter längst im Frieden mit ihr verbunden.

Die Erzählung führt die Leser*innen während des Briefwechsels und den Zweifeln der Mutter, die der Tochter nicht vertrauensvoll glauben kann, zu einer juristischen Namensänderung. Die Autorin beschreibt diesen Prozess der Identitätsänderung ihrer Protagonistin, weil es ihr „unerträglich war, einen Namen zu haben, den ich während der Zeit trug, als ich sexuell missbraucht und vergewaltigt wurde“.

Nach ihrem letzten Versuch, durch einen Brief an den Täter und dessen Ehefrau endlich ein Eingeständnis des Verbrechens zu bekommen, bleibt in Leser*innen eine bedrückende Stimmung zurück, denn auch dieser Versuch scheitert. Bis zum Ende des Buches verdichtet sich diese Stimmung zu einer Last, die sich einfach nicht aufheben lassen will. In diese empfundene Last schiebt sich eine Erkenntnis, die von der Ich-Erzählerin bereits auf Seite 261 als Antwort auf die verweigerte Verständigung so formuliert wird: „Hier bedürfte es einer neuen Schöpfung“.

Dieses so wichtige Buch erscheint in einer Zeit, in der es verschiedene Lösungsansätze (vor allem juristischer Art) gibt, dieses so lange tabuisierte Thema der sexualisierten Gewalt anzusprechen, aufzuarbeiten und vor allem, Gerechtigkeit herzustellen. Rea Gorgon gelingt damit umfassend die Beleuchtung aller Aspekte und aller Beteiligten dieser Thematik. Es ist ein großartiges Buch, sowohl in seiner literarischen Sprache als auch in seiner historischen Dokumentation.

Ein außergewöhnliches Buch zum Thema Sexualisierte Gewalt an Kindern.

Betroffene wie Fachleute sollten es unbedingt zu Rate ziehen.