Eierwurf – Gesamttext: (©)

Alma kam aus einer kleinen Stadt. Die Eltern hatten es zu einem eigenen Haus gebracht. Hier wohnte man Garten an Garten und nicht mit Nachbarn Wand an Wand. Sechs kleine Zimmer inklusive Küche für elf Personen. Alma hatte kein Zimmer für sich allein. Oft ging es laut zu. Man lachte schallend und schrie wütend. Häufig wurden die Kinder geschlagen. Der beste Schutz war dann für Alma, still und unsichtbar zu werden. So verschwand sie vor den anderen und auch sich selbst.
Sobald Alma ihre Lehrzeit in der Heimat beendet hatte, zog die junge Erwachsene in die Großstadt. Die Mutter sagte: Komm mir nicht unter die Räder. Besser hätte sie gesagt: geh mir nicht unter in der lauten Stadt.
Alma hatte ein hochsensibles Nervensystem, das ihr gute und auch schlechte Dienste leistete. In der neuen Welt wohnte sie in Mietshäusern und mit vielen Nachbarn. Die schätzten Almas Einfühlung und muteten ihr oft großen Lärm zu.

In dieser Zeit, als sie in der Großstadt ihr erstes eigenes Zimmer bezogen hatte, fingen die fremden Laute an, ihr schleichend und fast unmerklich zum Feind zu werden. Heulten Sirenen der Polizei oder der Feuerwehr, hielt sie sich die Ohren zu. Schrie jemand plötzlich auf der Straße, zuckte sie zusammen. Dann überschwemmte das Stresshormon Kortisol ihren Körper und es dauerte oft viele Stunden, bis wieder Ruhe einkehrte.

Einmal wohnte Alma in Karlsruhe in der Schillerstraße im 5. Stock. Unter ihrem Fenster fuhr eine Straßenbahn im 5-Minuten-Takt am Tag und alle 10 Minuten in der Nacht. Der Boden in der Wohnung bebte im selben Rhythmus. Das Quietschen der Schienen aus der Dunkelheit drang in Almas schlaflose Ohren und zermarterte ihr den folgenden Tag. Der Schlaf wurde unruhiger. Die Haut dünner. Die Nerven zitterten und ihre Grundstimmung war zunehmend gereizt.

Einst hatte sich in der Nachbarwohnung, hinter der Mauer ihres Schlafzimmers, ein Mann am Fensterkreuz erhängt. Dieses Bild wollte nicht von ihr weichen, wenn sie nachts wegen der Straßenbahn wach dalag. Dann lärmten diese Bilder des Erhängten fast so laut wie die quietschenden Räder in ihrem Kopf. Eines Tages kündigte sie die Wohnung und zog an den Stadtrand. Dort war es ruhig und einsam. Doch sie war jung und wollte auch im Getriebe der Stadt sein. Noch besaß sie wenig und konnte schnell umziehen.

Davor hatte Alma 9 Monate lang in Ulm gewohnt. Während dieser Zeit wechselte sie zwei Mal ihre Bleibe. In Karlsruhe brachte Alma es innerhalb von 3 Jahren auf 10 Wohnungswechsel. All diese Umzüge waren entweder dem Nachbarschaftslärm, dem auf der Straße oder auch dem  unverstandenen Lärm von Bildern in ihrem aufgewühlten Innenleben geschuldet.

Auch in der nächsten Stadt, im idyllisch westfälischen Münster, wo Alma 13 Jahre lang lebte, brachte sie es noch auf 7 Wohnungswechsel, die zunehmend aufwändiger wurden wegen all der hinzugekommenen Möbeln, Küchenutensilien, Klamotten und Bücher.  ̶  Einmal musste sie auch hier die Wohnung wegen eines Toten wechseln. Hinter Almas Schlafzimmer- und Küchenwand hatte vor einigen Jahren eine Frau ihren Mann getötet, ihn zerstückelt und die einzelnen Körperteile an unterschiedlichen Orten in Münster versteckt. Den Kopf hatte man irgendwo am Aasee in einem Plastiksack gefunden. Oft erschienen Alma in der Nacht diese nach und nach gefundenen Teile des zerhackten Alten vor den Augen. Dann war es vorbei mit einem schnellen und guten Schlaf. Warum nur hatte ihr die alte Nachbarin diese grässliche Geschichte erzählt.

Schließlich zog Alma, die inzwischen vegetarisch lebte, ihr Brot selbst backte, meditierte und im Autogenen Training ihre Bilder im Kopf entmachten konnte, nach Berlin. Denn sie verfügte über einen kritisch sprechenden Geist, der in Münster weder an ihren Arbeitsplätzen noch an der Universität, an der sie zwischenzeitlich studierte, erwünscht war. Niemand mochte hier den Lärm ihrer heiklen Fragen. Dafür wurde sie eines Tages von einem Professor beschimpft. Er forderte die Studierenden auf, Alma aus dem Seminar zu werfen, denn diese Frau sei satanisch. Solch verleumderischen Lärm ertrug Alma ganz schlecht. Zur eigenen Rettung zog sie weiter. In Berlin würde sie sicher willkommen sein. So dachte Alma während ihres erneuten Umzuges vor sich hin.

Zwischenzeitlich lebt Alma bereits im 25sten Jahr in Berlin. Und man staunt und fragt sich, warum sie hier nur ein einziges Mal umgezogen ist. Nur einmal in einem Vierteljahrhundert. Trotz des Lärms aus den Nachbarschaftswohnungen, auf den Straßen und auch unter der Erde. Sicher muss man in Betracht ziehen, dass Alma es zwischenzeitlich zu einem kompletten Haushalt gebracht hat, zu dem neben hinzugekauften Möbeln auch an die 100 Kartons Bücher aus beständig wachsenden Regalen zählen.

Es mag in Almas zweitem Berliner Monat gewesen sein, als ein Fremder, ein alter Mann mit schottenkariertem Rock, sie am Hermannplatz zur Seite stieß und anbrüllte, sie solle ihm aus dem Weg gehen und beschimpfte, sodass Worte wie Hurenweiber und totschießen ihr noch lange nachgingen. Kurze Zeit später wartete sie nachts im Wedding auf die U-Bahn. Da sah sie im Augenwinkel, wie ein Betrunkener mit einer erhobenen Bierflasche in der Hand ihr diese auf den Kopf schlagen wollte. Schnell wie ein Wiesel war sie zur Seite gesprungen, als dann auch schon die U-Bahn einfuhr. Erst als sie im Zug saß, bemerkte sie, wie ihre Nerven zitterten, die sich erst am anderen Morgen beruhigen wollten.

Nach nur dreimonatiger Berlinerfahrung fuhr Alma ins gemütliche Bremen, um sich eine neue Wohnung an einem neuen Wohnort zu suchen. Doch nach vier Tagen wurde es ihr zu langweilig und sie sehnte sich unverstanden nach Berlin zurück. Dieses Hin und Her, Berlin raus, Berlin rein, zog Alma drei Jahre lang durch, bis die Mauer fiel und sie ihre gebeutelten Nerven durch viele Ausflüge aufs geöffnete Land beruhigen konnte.

Doch kommen wir zur Sache: Almas erste Wohnung lag in einem Neuköllner Hinterhof, direkt hinter der Sonnenallee, im 4. Stock. In diesem wabenförmig angelegten Bau neigten sich sämtliche Wohnungen mit ihren Balkons in den Innenhof. Daher wohnten hier alle mit ihren Blicken und Stimmen wahllos einander zugewandt. Wenn die Nachbarn oder Besuchende in diesem Innenhof miteinander redeten, Alma auch noch auf ihrem Balkon saß, verstand sie jedes Wort, das sich durch die Gesetze der Akustik von unten nach oben in Almas Ohren spulte, ob sie es nun hören wollte oder nicht. Oft hüpften die Worte auch von Balkon zu Balkon.

Alles war wetterabhängig. Der Regen brachte für Alma immer eine große Stille mit sich. War es schwül und heiß aufgeladen, wurde es in immer mehr der 50 Wohnungen laut und aggressiv. Entweder drehte der eine Nachbar seine Musikanlage auf, um den anderen Nachbarn zu übertönen, oder aber die Menschen schrien einander mit sich steigernden Stimmlagen an. Dazwischen schrien Kinder zeter und mordio. Manchmal war schwer zu unterscheiden, ob Nachbarn sich lautstöhnend auf dem Weg zu einem Orgasmus befanden oder ob sie gewalttätig gegen einander oder ihre Kinder waren. War Letzteres eindeutig, oder wollte der Lärm auch spät in der Nacht nicht enden, rief Alma die Polizei, die kam und zumindest für den Rest dieser einen Nacht für Ruhe sorgte.

Wenn hier die Nachbarn wechselten, lag immer eine gräuliche Wolke auf Almas Gemüt. So auch, als in der Wohnung unter ihr der Feuerwehrmann Paul einzog. Eigentlich mochte ihn Alma. Doch seine unangekündigten Feste machten ihr das Leben Boden an Decke mit ihm zur Hölle. An einem Sommerabend, als es unter Almas Wohnung wieder unausweichlich laut wurde, platzte sie zum ersten Mal. Sie fühlte sich wie in ihren ersten Wochen in Berlin. Damals stand sie vor der Metzgerei, die sich neben der großen Eingangstür zum Innenhof befand, betrat zielstrebig den Laden, kaufte sich, als wäre dies das Normalste der Welt, vier dicke Scheiben gekochten Schinken und verzehrte das jahrelang Gemiedene schon auf dem Weg in den vierten Stock. Bis sie oben ankam, war nichts mehr davon übrig. Dann wurde sie ruhiger.

Auch jetzt musste etwas geschehen. Sie füllte einen Putzeimer mit Wasser, trug ihn auf den Balkon, hob ihn über den Blumenkasten und kippte die Wassermenge in einem Schwung über Pauls lärmende Gäste. Der Schreck erzeugte eine kurz anhaltende Totenstille. Die hämmernde Musik verstummte. Alma schloss ihre Balkonzimmertür und nahm befriedigt ihren Erfolg wahr: Musik und Stimmen halbierten ihren Pegel. Damit konnte sie leben.

Danach sprachen Alma und Paul miteinander, als sie sich später zufällig im Hausflur trafen. Sie lernten sich näher kennen, die Feste wurden angekündigt, die lautstarken Orgasmen in der Nacht und auch am Tag und zu jeder Zeit nicht. Später, als der Feuerwehrmann Paul mit seinen 30 Jahren in Frührente ging, weil er auf der Feuerleiter Höhenangst bekam, erzählte er Alma von seinen Drogenparties, auf denen sie nun wirklich nicht an Nachbarn hätten denken können. Mit einer Ausnahme, sagte er: als damals Wasser von oben gekommen sei, seine Gäste durchnässte und diese auch ernüchtert hätte.

Auf derselben Höhe, im 4. Stock, Wand an Wand, fast Balkon an Balkon, im Aufgang daneben, zog eines Tages Carmen ein. Sie war Krankenschwester, worüber Alma sich freute. Carmens Nachtschichten würden ihr einen guten Schlaf garantieren. Leider hatte sie sich geirrt. Denn bereits nach wenigen Monaten, in denen Carmen kaum zu bemerken war, stellte sich heraus, dass sie nicht daran dachte, die Erwartungen ihrer Nachbarin zu erfüllen. Carmen, die von Alma auf dem Hof und der Straße, wie alle anderen Nachbarn auch, zwar distanziert, aber doch freundlich gegrüßt wurde, kam oft gegen zwei oder drei Uhr in der Nacht von der Arbeit nach Hause. Dann drehte sie bei geöffneten Fenstern ihr Radio lautstark auf und riss Alma regelmäßig aus dem Schlaf.

Zu Beginn dieser Episode gelang es Alma mit Gedanken der Nachsicht, einem meditativen Ohm, Ohropax, Decke über den Kopf und darauf warten, dass Carmen endlich selber in den Schlaf fiel, mehr schlecht als recht, irgendwie mit der neuen Nachbarin umzugehen. Doch es half nichts. Auch nicht das Abrücken des Bettes von der Wand, hinter der Carmen lebte, da die Bässe auch über den Fußboden zu jeder Synapse in Almas Nerven weitergeleitet wurden und selbst die Membranen der verbarrikadierten Ohren zum Schwingen brachten.

Almas Wehrhaftigkeit lauerte kurz vor dem Tor zur Explosion. Wütend eilte sie zum Kühlschrank, griff nach der Eierschachtel, ging auf den Balkon und warf das erste Ei. Doch sie verfehlte Carmens geöffnetes Fenster. Eiweiß und Eigelb samt Schalen tropften langsam und schleimig an der Wand hinab und verwandelten sich zu Flecken, deren Ränder selbst nach 10 Jahren noch sichtbar waren. Kein Regen vermochte diese Spuren zu tilgen.

Alma ergriff wütend das zweite Ei. Auch dieses zerschellte an der Hauswand. Erst mit dem dritten Ei landete sie einen Volltreffer ins offene Fenster von Carmen. Dann verschwand Alma in der Dunkelheit ihrer Wohnung und schloss leise und schnell die Balkontür. Schlagartig wurde es still. Endlich konnte Alma ihren Schlaf fortsetzen.

Am nächsten Morgen, es war ein Samstag gegen 11 Uhr, klingelte es an Almas Tür. Sie öffnete und blickte in Pauls zermürbtes Gesicht. Freundlich und auch hilfesuchend fragte er sie mit gequälter Stimme, ob sie denn wisse, warum Carmen von oben, denn nur von dort wäre es möglich, in der letzten Nacht mehrere Eier auf seinen Balkon geworfen habe. Alle seine Anzüge, die er dort zum Auslüften aufgehängt habe, wären total verkleckert.

Alma antwortete ihm schlicht, sie wisse es nicht. Für diese Lüge wurde sie von ihrem Gewissen, das im Laufe des Tages selbstentblößende Formen annahm, meisterhaft bestraft. Ihr Blick in den Spiegel wurde mit jedem Blick schwerer und zerfloss gleich den beiden Eiern, die sich auf dem gelben Putz zu inhaltsleeren Flecken verwandelten. Von diesem Gewissen getrieben, klingelte Alma am frühen Abend bei Paul. Er öffnete die Tür. Sie sagte knapp: können wir reden? Ja, antwortete er und bat sie in seine Wohnung. Sie kam schnell zur Sache. Es tue ihr leid. Sie habe nicht die Wahrheit gesagt. Sie wisse es doch. Ihr sei alles peinlich. So sei es gewesen in der Nacht. Die Störung. Aus dem Schlaf gerissen. Schon des Öfteren. Er wisse ja. Sie sei es gewesen. Das Ei in Carmens Fenster. Carmens Eier auf seinem Balkon. Carmen habe sich getäuscht. Ihr hätten die Eier gegolten.

Paul war überrascht und auch erleichtert. Das erkläre ihm alles, jetzt verstehe er. Sein Gesicht hellte auf. Nun erwartete er, dass Alma zu Carmen gehe und ihr sage, dass sie es gewesen sei und nicht er. Vom schlechten Gewissen immer noch gepeinigt, stimmte Alma sofort zu. Auch wollte Paul, dass Alma seinen Balkon säubere, was diese jedoch vehement ablehnte, da nicht sie die Eier über seine Anzüge geworfen habe. Doch Paul kämpfte um die Spurentilgung. Da kam ihm Alma entgegen. Sie könnte sich vorstellen, mit Carmen zusammen seinen Balkon zu säubern und für die Reinigungskosten der Anzüge aufzukommen. Damit war Paul einverstanden.

Bevor sich Alma nun auf den Weg zu Carmen machte, vier Etagen nach unten, über den Hof, vier Etagen nach oben, gab ihr Paul den Rat, mit Carmen vorsichtig zu sein. Erst vor kurzem seien die Polizei und ein Krankenwagen dagewesen. Sie hätten Carmen angeschnallt abgeholt. Ihr Freund, dem sie im Streit einen Steinaschenbecher zwischen die Zähne geschoben hatte, habe die Polizei gerufen. Stark blutend habe der arme Kerl dabei seine beiden Frontzähne verloren.

Mit diesen Bildern im Kopf stieg Alma nun langsam Stufe um Stufe nach oben. Jeder Schritt verstärkte ihr mulmiges Gefühl. Würde Carmen auch in diesem Streit nach dem Steinaschenbecher greifen? Ihr einen Teller entgegen schleudern? Einen Hammer in die Hand nehmen? Drohen? Schlagen? Töten?  ̶ Worauf hatte sie sich nur eingelassen. Warum hatte sie Paul nachgegeben. Dieses ewige schlechte Gewissen. Diese Schuldgefühle.  ̶ Eine nachbarschaftliche Streitsache, nachdem das Ei schon in die Wohnung gefallen war. Konfliktlösung. Mit Worten. Eine fällige Entschuldigung. Doch wer würde sich bei ihr  ̶ Alma  ̶ entschuldigen für all das Laute, das Nervende, das Bedrängende, vor allem in der Nacht, im Schlaf, das ihr das Leben so schwer machte?

Würde Carmen sie anschreien? Ihr die Tür vor der Nase zuschlagen? Sie bespucken? Sowas würde sie aushalten. Auch ein Ei, das Carmen auf Almas Kopf aufschlagen könnte, wenn sie wollte, würde sie aushalten. Doch ein Aschenbecher oder eine Tasse Kaffee im Gesicht? Zwischen die Zähne geschoben? Über den Kopf geschüttet? Würde sich Carmen für ihre unsozialen nächtlichen Musiktiraden entschuldigen? Wer entschuldigt sich bei Alma?  ̶  Sollen sich doch Gott und Satan, die schon Hiob übel zugesetzt haben, für das unpassende Nervensystem entschuldigen.

Endlich erreichte Alma die Wohnung der Nachbarin, atmete tief durch und klingelte. Langsam ging die Tür auf. Da stand Carmen nun, klein und zierlich, fast gebrechlich. Mit unschuldigem Blick. Ihr Mund öffnete sich und ein dünnes Stimmchen, das keiner Fliege etwas antun konnte, sagte: Ich weiß schon, warum Sie kommen. Alma antwortete hastig: Ja, wegen der Eier in der Nacht. Es war nicht Paul. Ich war es.  ̶  Dann schwieg Alma.

Da schaute Carmen ihre Nachbarin mit immer größer werdenden Augen an und sagte ungläubig: Sie? und zog das i in die Länge. Sie sind doch immer so freundlich.

(©) Rea Gorgon